
Foto: Anja-Christin Winkler
Berlin (kobinet) Amerikanische Panzer waren eingefahren. Bewohner mussten das Dorf an der Elbe verlassen. Auch Mutter und zwei Kinder, die hier wegen der Luftangriffe auf Magdeburg evakuiert waren. Mutter zog mich auf die andere Seite des Pferdewagens, als wir auf der Landstraße eine Kolonne ausgemergelter Menschen überholten. Ich sollte die "Sträflinge" nicht sehen. "Reichsführer SS" Heinrich Himmler hatte sie auf den Todesmarsch geschickt. Kein Insasse von Arbeits- oder Konzentrationslagern sei lebend zurückzulassen, stand in seinem Evakuierungsbefehl vom 14. April 1945. Heute wollte ich zum Gedenken an die Frauen aus dem Außenlager Markkleeberg des KZ Buchenwald nach Leipzig fahren.
Vor den heranrückenden alliierten Truppen wurden in der Nacht des 13. April 1945 im eisigen Regen 1 500 Zwangsarbeiterinnen vom Lager am Wolfswinkel durch die verdunkelten Straßen der südlichen Randbezirke Leipzigs getrieben. Wie vor fünf Jahren sollte der Schneeblumen-Gedenkweg daran erinnern. Doch das kann nun nur virtuell geschehen.
Zahava Szàsz Stessel hat die Torturen überlebt und in ihrem Buch „Snow Flowers“ beschrieben. Aus New York ließ die 91-jährige ungarische Jüdin jetzt den Veranstaltern eine Mail zukommen, mit der sie vor einem wieder auflebenden Antisemitismus in Europa und Deutschland warnt.
„Mein Herz schlägt vor Sorge und Aufregung“, schrieb Zahava. Sie bete dafür, dass ihre Enkel niemals einen Ort wie Auschwitz kennenlernen, wo sie ihre Eltern und Großeltern verloren hat. Ihre Oma habe ihr etwas Deutsch beigebracht, „da die Deutschen gebildete, intelligente Menschen waren“. Sie habe nicht ahnen können, dass diese aufgeklärten Menschen ihr die Tür zum Krematorium in Auschwitz offen halten würden.
An der Rampe in Auschwitz wurden Zahava und ihre Schwester 1944 für die Rüstungsindustrie „selektiert“. Wie 1 250 jüdische Ungarinnen und später 250 Französinnen aus der Résistance kamen sie in das Frauenlager Markkleeberg-Wolfswinkel.
Hier war ein Standort der Flugzeug- und Motorenwerke Dessau. Die legendäre Ju 52 der Lufthansa startete 1936 zu ihrem Jungfernflug. Noch heute sind Rundflüge mit dem Oldtimer (Kosename „Tante Ju“) möglich. Wohl keiner denkt da an den berüchtigten Sturzkampfbomber Ju 87 („Stuka“). An der Rampe in Auschwitz wurden 1944 die aus Ungarn deportierten Juden von SS- und Junkers-Männern „selektiert“.
Auf der Fahrt nach Leipzig hätte ich wieder den merkwürdigen Dessauer Abschnitt der A 9 passiert. Bei der Planung der „Reichsautobahn“ hatte die „Organisation Todt“ angeblich eine Rekordrennstrecke vorgesehen.
Die Autobahn blieb ohne Mittelstreifen, die Stahlbetonbrücken ohne Pfeiler. Diesen wie andere Abschnitte der „Reichsautobahn“ sollte die Luftwaffe im Krieg als Start- und Landepiste nutzen. Gegen Ende des Krieges tat das die US Air Force und baute drum herum ihren bis heute bestehenden Stützpunkt Ramstein bei Kaiserslautern auf.
In Leipzig und der näheren Umgebung gab es sechs Außenlager des Konzentrationslagers Buchenwald. Die Häftlinge mussten unter schwersten Bedingungen für die Kriegswirtschaft arbeiten. Die Gedenkstätte für Zwangsarbeit Leipzig macht Online-Lesungen aus Zahavas Buch, das Gymnasiasten übersetzt haben und den Anstoß für den Schneeblumen-Gedenkweg gab. 60 000 Menschen aus von Deutschland überfallenen Ländern mussten allein in Leipzig Zwangsarbeit für die Nazis leisten …