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Triage – Politik muss schnell handeln

Jessica Schröder
Jessica Schröder
Foto: Franziska Vu ISL

Berlin (kobinet) Jessica Schröder, die bei der Interessenvertretung Selbstbetimmt Leben in Deutschland (ISL) seit kurzem ein Projekt zur Durchsetzung der Rechte behinderter Menschen leitet, hat die Diskussion um die Triage von Anfang an verfolgt. In ihrem Bericht fasst sie ihre Eindrücke bzw. Schlussfolgerungen aus nunmehr drei Online-Veranstaltungen zusammen, die von den Grünenpolitiker*innen Corinna Rüffer und Katrin Langensiepen initiiert und moderiert wurden. Für Jessica Schröder steht fest, dass nun die Politik handeln muss, damit das Vertrauen in die Sicherheit und adäquate Versorgung aller Bürger*innen nicht verspielt wird.

„Triage – wer wird behandelt, wer nicht?“

Onlinediskussion zum Thema der Aussortierung bei Resourcenknappheit im intensivmedizinischen Bereich

Von Jessica Schröder

In den letzten Wochen ist das Thema der Triage, also der Aussortierung derjenigen, die bei einem Mangel an Beatmungsplätzen nicht mehr intensivmedizinisch beatmet werden können, endlich einer breiten Öffentlichkeit zugänglich und somit auch bewusst gemacht worden. Sieben intensivmedizinische Fachgesellschaften hatten am 27.03.2020 Empfehlungen veröffentlicht, nach denen Ärztinnen bei einem Mangel an Beatmungsgeräten entscheiden sollen, wer intensivmedizinisch behandelt und somit eine Chance auf ein Weiterleben hat und wer nicht behandelt oder wessen Weiterbehandlung ausgesetzt wird und somit zwangsläufig sterben muss. Die Empfehlungen der Fachgesellschaften orientieren sich an der Erfolgswahrscheinlichkeit einer intensivmedizinischen Behandlung und listen zur Beurteilung dieser verschiedene Kriterien auf, die den Erfolg einer Behandlung erhöhen oder mindern.

Als Grundlage zur Bewertung werden Faktoren, wie der allgemeine Gesundheitszustand, der Schweregrad der Erkrankung, aufgrund dessen Patient*innen intensivmedizinisch behandelt werden müssen und das Vorhandensein von Vorerkrankungen und unheilbaren Störungen des Imunsystems, mit einbezogen. Um zu entscheiden, wer beatmet wird und wer nicht und wessen Beatmung ausgesetzt wird, werden die Erfolgsaussichten der Patient*innen, die auf eine Beatmung angewiesen sind, miteinander verglichen. Die überarbeitete Fassung der Empfehlungen betont zwar, dass Behinderung bei der Entscheidung kein Kriterium sein darf, die angewandten Skalen zur Bewertung einer erfolgreichen Behandlung verringern für eine Vielzahl von Menschen mit Behinderung jedoch die Chance auf einen Beatmungsplatz. (Siehe hierzu der sehr lesenswerte und fundierte Artikel der behinderten Aktivisten Kassandra Rum: „Wir lassen uns nicht verarschen“)

Die behindertenpolitischen Sprecherinnen der Grünen, Corinna Rüffer und Katrin Langensiepen haben in mehreren Onlineveranstaltungen auf dieses Thema aufmerksam gemacht und insbesondere die Meinung von Menschen mit Behinderung in den Fokus gerückt, um die Empfehlungen der Fachgesellschaften kontrovers zu diskutieren. Behinderte Aktivist*innen und deren Organisationen haben in zahlreichen Stellungnahmen deutlich gemacht, dass die Empfehlungen der Mediziner*innen gegen das deutsche Grundgesetz verstoßen, den Schutz jedes einzelnen Lebens dem kollektiven Wohl der Allgemeinheit unterordnen, Menschen mit Behinderung diskriminieren und in der Zuteilung von Ressourcen grundsätzlich benachteiligen. Die Entscheidungskriterien greifen massiv in die Würde jedes einzelnen Menschen ein, da hier Leben anhand einer prognostizierten Erfolgsaussicht gegeneinander abgewogen und bewertet wird.

Am Freitag, den 24. April, erhielten Vertreter*innen und Verfasser*innen der Triage Empfehlungen die Möglichkeit, sich in einem von der Grünen Europaparlamentsabgeordneten Katrin Langensipen veranstalteten Webinar zu den Kritikpunkten zu äußern und sich den Fragen und Argumenten von Menschen mit Behinderung zu stellen. Nancy Poser, selbst Frau mit einer Körperbehinderung, Richterin am Amtsgericht Trier und Mitautorin der Stellungnahme des Forums behinderter Juristinnen und Juristen, repräsentierte eindrücklich und mit viel Sachverstand und der nötigen Emotionalität die Sicht vieler Menschen mit Behinderung zu den Empfehlungen. Auch das Publikum hatte die Möglichkeit, durch mündliche und schriftliche Fragen und Kommentierungen, Äußerungen der Diskussionsteilnehmenden kritisch zu hinterfragen und sich Gehör zu verschaffen. Die DIWI wurde durch Prof. Dr. med. Uwe Janssens, Chefarzt und Präsident der DIVI (Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin) und Prof. Dr. med. Georg Marckmann, Vorstand des Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, vertreten. Aufgerüttelt durch die Zustände in spanischen und italienischen Krankenhäusern, in denen es nicht mehr möglich war, alle Patienten zu beatmen und vor allem Personen hohen Alters und teilweise auch Menschen mit Trisomie 21 keinen Zugang zu intensivmedizinischen Maßnahmen erhielten, erarbeiteten Mediziner*innen und deren Ethikkommittees diese Empfehlungen. In die Erarbeitung der Empfehlungen sollte auch das Bundesgesundheitsministerium sowie die Bundesärztekammer miteinbezogen werden, beide Institutionen lehnten eine Mitarbeit jedoch ab.

Die Empfehlungen verfolgen das Ziel, so viele Menschenleben wie möglich zu retten und Ärzten Entscheidungshilfen an die Hand zu geben, um dieses Ziel zu erreichen. Hinter dieser Maxime steht die Annahme, dass Menschen mit einer vermuteten minimalen Erfolgsaussicht auch mit der Anwendung intensivmedizinischer Maßnahmen versterben und solche mit guten Erfolgsaussichten schneller genesen und somit Beatmungsplätze in kürzeren Zeitintervallen für mehr beatmungspflichtige Patient*innen genutzt werden können. Die DIWI-Vertreter betonten, dass die Ermittlung der Erfolgsaussicht immer eine individuelle Entscheidung sei und die aufgeführten Erfolgskriterien nur im Zusammenspiel eine rationale und faire Ressourcenverteilung zulassen. Die Vorerkrankungen eines Patienten sind also nicht allein entscheidend, ob ein Patient beatmet wird oder nicht. Die DIWI-Vertreter*innen wollen ihre Empfehlungen nicht als Ausschlusskriterien verstanden wissen, sondern als Instrumente, die allen Menschen, egal ob sie Senior’innen oder Menschen mit Behinderungen und oder chronischen Erkrankungen sind, eine gleichberechtigte Chance auf einen Beatmungsplatz gewähren möchten.

Konfrontiert mit den diskriminierenden Bewertungsinstrumenten, wie der Gebrechlichkeitsskala, mit der der allgemeine Gesundheitszustand einer Person beurteilt werden soll, erläuterten die DIWI-Vertreter, dass diese Skala nur bei Personen ab einem Lebensalter von 65 Jahren und älter angewandt werden darf. Diese Skala listet in sehr kruder Form auf, was ein Mensch können muss, um als nicht gebrechlich eingestuft zu werden. Schon Schwierigkeiten beim Treppen steigen oder die Notwendigkeit von Assistenz im Haushalt machen Menschen zu gebrechlichen und somit hinfälligen Objekten. Behinderte Menschen, deren Gesundheitszustand ansonsten jedoch stabil ist haben hier schlechte Karten und ihre Erfolgsaussicht durch eine Behandlung wieder gesund zu werden, wird automatisch als minimal eingestuft.

Auch bei der überarbeiteten Version ihrer Empfehlungen verwies die DIWI nicht darauf, dass die Gebrechlichkeitsskala nicht bei Menschen mit Behinderung angewandt werden darf. In Notsituationen, die schnelles Handeln erfordern, kann diese Nachlässigkeit zu fatalen und tödlichen Konsequenzen für behinderte Menschen jedweden Alters führen. Die Bewertung der Erfolgsaussichten anhand von Punktetabellen widerspricht außerdem dem Grundsatz einer individuellen Betrachtung jedes Einzelfalles und lässt viele wesentliche Parameter, wie die Bewältigung von früheren Erkrankungen, die allgemeine Lebensführung (Ernährung, Nikotin- und Alkoholkonsum) etc. völlig außer Acht. Nancy Poser und Annette Standop, Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Behindertenpolitik der Grünen, plädierten in ihren Statements für die Abkehr von aufgelisteten Erfolgskriterien, die die Lebenswirklichkeit vieler Menschen mit Behinderung verkennen. Ihre Statements reflektieren die Erfahrung einer Vielzahl Gleichbetroffener, die laut Ärzten häufig todgesagt wurden, da diese ihre Widerstandskräfte völlig falsch eingeschätzt hatten.

Diese Empfehlungen instrumentalisieren Ärzt*innen zu den alleinigen Entscheider*innen über Leben und Sterben und bieten keinerlei rechtlichen Schutz für alle Betroffenen. Dieses Argument seitens behinderter Aktivist*innen zeigt noch einmal eindrücklich, dass sich die Bundesregierung ihrer Verantwortung zum Schutz jedes Menschenlebens und zur Wahrung seiner Würde nicht entziehen darf. Der Bund muss verfassungsgemäße handlungsleitende Grundprinzipien erarbeiten, die allen Beteiligten Rechtssicherheit und Chancengleichheit ermöglichen.

Bei der Diskussion zu alternativen Auswahlkritierien, wie die Zuteilung von Beatmungskapazitäten anhand der Dringlichkeit, durch ein Losverfahren oder unter der Prämisse, wer zuerst kommt, wird zuerst versorgt, wurde die Diskrepanz zwischen Medizinerethos/Gewissen und der berechtigten Sorge von Menschen mit Behinderung ohne eine faire Chance auf Beatmung sterben zu müssen, durch kontroverse Aussagen beider Gruppen emotional spürbar. Ärzte können es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, das Los über die Zuteilung von Ressourcen entscheiden zu lassen und Menschen mit Behinderung möchten nicht durch unzureichende Erfolgs- oder Nichterfolgskriterien objektiviert werden.

Trotz aller Kontroversen schuf die Veranstaltung einen Raum, der eine Diskussion der beteiligter Gruppen auf Augenhöhe ermöglichte, unterschiedliche Bewertungen der Empfehlungen zuließ und seitens der DiVi-Vertreter erkennen ließ, dass die Sorgen der Menschen mit Behinderung zukünftig stärker berücksichtigt und in die Überarbeitung der Empfehlungen miteinfließen werden. Auch wenn gegenseitiger Respekt und Empathie in dieser Diskussion handlungsleitend waren, sollte dieser kritische Dialog von den Gesetzgebern/Bundesregierung als dringendes Signal verstanden werden, hier aktiv zu werden. Wenn nicht bald gehandelt wird, vertut unsere Regierung eine elementare Chance, die Grundrechte aller Menschen zu schützen, die Befürchtungen und Ängste ihrer Bürger*innen mit Behinderung ernst zu nehmen und Fachpersonal im Gesundheitswesen größtmögliche Rechtssicherheit und wenigstens rechtliche Entlastung in solch einer belastenden Situation zu bieten.